Nymphomaniac - Director's Cut

Die ganze ungeschminkte Wahrheit

Arthouse ohne Tabus: In der ungeschnittenen Fassung seines skandalumwitterten Psychogramms einer getriebenen Frau macht Lars von Trier seinem Ruf als Kino-Provokateur alle Ehre.

Selten wurde der Director's Cut eines Films mit soviel Spannung erwartet wie die ungeschnittene Fassung von "Nymphomaniac". Lars von Triers zweigeteiltes und mit unsimuliertem Sex aufwartendes Opus magnum, in dem die zusammengeschlagen aufgefundene Titelheldin Joe (Charlotte Gainsbourg) für ihren Retter Seligman (Stellan Skarsgård) ihr lustgesteuertes Leben in acht Kapiteln Revue passieren lässt, war von der Produktionsfirma für die internationale Kinoauswertung um insgesamt 85 Minuten gekürzt worden. Da es bereits in dieser entschärften Version ungewohnt zeigefreudig zuging, wurde spekuliert, dass es sich bei der Langfassung um ein "ArtPorn"-Spektakel voll zusätzlicher Hardcore-Szenen handeln dürfte. Neue Sexkapaden der von Trierschen Scheherazade finden sich im jetzt von Concorde Home Entertainment veröffentlichten Director's Cut zwar nicht, bei den Sexszenen geht es aber tatsächlich deutlich expliziter zur Sache. Die verblüffende Authentizität dieser aus der Interaktion mit lebensechten Prothesen und Körperdouble-Aufnahmen bestehenden Genitalbeschau bringt Stacy Martin, die in den Story-Flashbacks die junge Joe verkörpert, in einem der vier Bonusmaterial-Interviews auf den Punkt: "Es ist unglaublich, was sich heute mit Spezialeffekten machen lässt. Ich weiß, dass ich keinen echten Sex vor der Kamera hatte, es sieht aber verdammt danach aus!" Doch bei aller zusätzlich sichtbaren Penetration und lustvollen Prothesennuckelei bleibt erkennbar, dass es dem Regisseur bei seiner sexuellen Provokation nicht um die pornographische Stimulans des Zuschauers geht, sondern um die ungeschönte körperliche Psychologisierung einer triebgesteuerten und damit gesellschaftlich vorverurteilten Frau.

Neu in Kapitel 6: Im DC wird im Vollbild gezeigt, wie der Verlust ihrer Orgasmusfähigkeit Joe (Stacy Martin) in Masturbationspanik versetzt
Neu in Kapitel 6: Im DC wird im Vollbild gezeigt, wie der Verlust ihrer Orgasmusfähigkeit Joe (Stacy Martin) in Masturbationspanik versetzt
Neu in Kapitel 7: Die berüchtigte Abtreibungsepisode
Neu in Kapitel 7: Die berüchtigte Abtreibungsepisode

Zu diesem Eindruck tragen auch die zusätzlichen Spielszenen bei, die den Löwenanteil der verlängerten Laufzeit ausmachen und von Triers fleischlichem Abgesang auf die Liebe weiteren Tiefgang verleihen. Während in Teil 1 vor allem die innige Beziehung der jungen Joe zu ihrem Vater (Christian Slater) ausgebaut wird und damit dessen krankheitsbedingten Tod um so signifikanter für die Entwicklung der tragischen Heldin macht, steht im ohnehin härteren zweiten Teil eine ganz neue Episode im Zentrum, die dem Zuschauer alles abverlangt. Im Director's Cut sehen wir, wie Nymphomanin Joe drei Jahre nach ihrem Mutterunglück in der zum Scheitern verurteilten Liebesbeziehung mit Jerome (Shia LaBeouf) erneut schwanger wird und den Embryo mit Haushaltsutensilien eigenhändig entfernt. Dass von Trier bei dieser krassen Prozedur nicht nur auf Ultraschall-, sondern auch auf schmerzhaft "reale" Bilder setzt, ist durchaus harter Arthouse-Tobak. Im Storygesamtkonzept einer nach der Maxime totaler Selbstbestimmung lebenden Frau stellt diese schockierende Episode aber eine so konsequente wie stimmige Zuspitzung dar. Dass es sich Lars von Trier mit der Thematik nicht leicht macht, zeigt die anschließende Gesprächssituation zwischen Joe und Seligman. Während der universalgelehrte Bücherwurm ansonsten das vermeintlich amoralische Treiben seiner Erzählerin durch (kunstvoll vom Regisseur in Szene gesetzte) Vergleiche aus Kultur, Sport, Geschichte und Religion entskandalisiert, gehen hier dem Abtreibungsbefürworter die bildlichen Argumente aus. Ihr verbaler Schlagabtausch, in dem dieses aus der öffentlichen Wahrnehmung verbannte Thema weiblicher Sexualität ohne Parteinahme problematisiert wird, verleiht der faszinierenden Beziehung zwischen den beiden "Nymphomaniac"-Protagonisten im Director's Cut eine ganz neue Dynamik. Und macht endgültig deutlich, dass es sich bei Lars von Triers provokantem Konzeptfilmprojekt um ein sorgfältig durchdachtes und bravourös durchkomponiertes Gesamtkunstwerk handelt.

 

"Nymphomaniac: Vol. 1 + 2" (Originaltitel: "Nymphomaniac") – DK/D/F/GB/B, 2013 (148 Min. + 178 Min.)