Mädchen: Mit Gewalt

In der Kiesgrube da gibt's koa Sünd

Germany's Lost Topmovie: Die um den vergessenen heimischen Genrefilm bemühte "Edition Deutsche Vita" von Subkultur Entertainment präsentiert als vierten Streich die Heimkino-Weltpremiere des monströsen Meisterwerks von Roger Fritz. 

Wer 1970 noch nicht im kinobesuchsfähigem Alter war, wird von "Mädchen: Mit Gewalt" noch nie gehört haben, da diese Perle des bundesdeutschen Genrefilms danach ungerechtfertigter Weise von der medialen Bildfläche verschwand – bis jetzt! Nach "Mädchen, Mädchen" (1967) und "Häschen in der Grube" (1969) inszenierte der preisgekrönte Fotograf und ehemalige Visconti-Assistent Roger Fritz seine damalige Lebensgefährtin Helga Anders ein drittes Mal als Opfer patriarchalischer Gesellschaftsstrukturen – diesmal jedoch in einem besonders krassen Szenario: Klaus Löwitsch und Arthur Brauss spielen die Arbeitskollegen Werner und Mike, die ihre Freizeit dem gemeinsamen Weiberaufreißen widmen. Auf einer Kartbahn lernen die triebgesteuerten Mittdreißiger die junge Alice (Anders) kennen, die sich bereitwillig zu einer nächtlichen Lagerfeuersause am Ufer eines nahe gelegenen Kiesgrubensees überreden lässt. Dort entspinnt sich zwischen den beiden lüsternen Mächenjägern und ihrer unbedarften Beute ein heimtückisches Katz-und-Maus-Psychospiel, das schließlich in einer verstörend orgiastisch in Szene gesetzten Vergewaltigung durch Werner gipfelt. Am nächsten Morgen wird Alices Widerstand vollends gebrochen, indem ihr Mike (in einer grandiosen Monolog-Szene) verdeutlicht, dass sie im Falle einer Anzeige von Polizei und Gericht nicht als Opfer, sondern als Verführerin abgestempelt würde. Doch als sich Mike seinerseits mit dem nun willenlosen Mädchen vergnügen will, eskaliert die Situation zwischen den konkurrierenden Kiesgruben-Platzhirschen.

Was sich wie Exploitation-Schmuddelkram liest, entpuppt sich als faszinierendes Kammerspiel, in dem mit der archaischen Vehemenz einer griechischen Tragödie der perfide Missbrauch der sexuellen Befreiung weiblicher Jugend durch eine latent gewalttätige Erwachsenengeneration verhandelt wird. Da dabei die Machtverhältnisse zwischen den beiden Aggressoren kontinuierlich hin und her wechseln, schlägt "Mädchen: Mit Gewalt" mit einer genre-untypischen Unvorhersehbarkeit in seinen Bann. Gleiches gilt für die fesselnden Aufnahmen des Originaldrehorts, in denen sich Alices Isolation und Ausweglosigkeit widerspiegeln, sowie den exzentrischen Score der damals noch unbekannten Krautrock-Ikonen CAN, deren Titelsong "Soul Desert" das ernüchternde Geschehen in der wüstenhafte Kiesgrube auf den melodischen Punkt bringen. Die Blu-ray-DVD-Digipak-Combo von Subkultur Entertainment wartet nicht nur mit einem knackigen HD-Transfer, sondern auch mit exklusiv produzierten Bonusmaterial auf. Während Regisseur Fritz und der einzige noch lebende Protagonist Brauss in ihrem moderierten Audiokommentar gesellige Anekdoten über ihre für den US-Markt auf Englisch gedrehte erste Zusammenarbeit beisteuern, schildert Subkultur-Chef Tino Zimmermann mit den Filmexperten Pelle Felsch und Christoph Draxtra in einem zweiten Kommentar, wie hürdenreich und frustrierend sich der Erhalt deutscher Genrefilmproduktionen gestalten kann. Eine bittere Lehrstunde über fehlendes filmkulturelles Engagement in dieser unseren von Kommerzkino und Autorenfilmgedenken dominierten "Kulturnation". Abgerundet werden die Extras durch Interviews (u. a. mit dem in einer Nebenrolle zu sehenden Rolf Zacher, der mit verstrahlt vorgetragenen Lebensweisheiten begeistert) und Dieter Lasers als Booklet abgedruckte Grabrede auf den 2002 verstorbenen Löwitsch, der für seine diabolisch-verschmitzte Power-Performance in "Mädchen: Mit Gewalt" damals völlig zurecht den Bundesfilmpreis als bester Darsteller erhielt. Alles in allem also eine so lobens- wie lohnenswerte Veröffentlichung im Rahmen einer applauswürdigen Sammler-Edition. Im September setzt Subkultur Entertainment die famose "Edition Deutsche Vita" mit Jürgen Rolands "Die Engel von St. Pauli" fort. Unbedingt weiter so!

 

"Mädchen: Mit Gewalt" (Originaltitel: "Mädchen mit Gewalt") – BRD, 1970 (98 Min.)