San Babila, 20 Uhr

Ein sinnloses Verbrechen

Faschismus al dente: Mit der Blu-ray-Weltpremiere von Carlo Lizzanis radikalem Jugendporträt hat das Kultlabel Camera Obscura ein besonders anspruchsvolles Filmschmankerl für seine famose "Italian Genre Cinema Collection" ausgegraben.  

"Alle müssen dieselben Ideale haben. Der Staat muss wie eine Kirche sein. Wie eine Festung, deren Mauern alles Minderwertige draußen halten." Was nach einer stumpfsinnigen Pegida-Parole klingt, ist die ideologische Überzeugung der vier jungen Neonazis, die der politische Autorenfilmer Carlo Lizzani ins Zentrum seines auf wahren Begebenheiten beruhenden Films aus dem Jahre 1976 gestellt hat. Während die Altfaschisten der vergangenen Glorie nachhängen, brennen Franco (Daniele Asti), Michele (Giuliano Cesareo), Fabrizio (Pietro Brambilla) und Alfredo (Pietro Giannuso) auf rechtsextremen Aktionismus. Ihre Basis haben die überwiegend aus bürgerlichem Elternhaus stammenden Unruhestifter in den Cafés der Piazza San Babila bezogen, von wo aus sie mit anderen Gleichgesinnten ihre (von der Staatsgewalt geduldeten!) Übergriffe auf Gewerkschafter und die kommunistische Studentenbewegung in Angriff nehmen. Lizzani schildert, wie sich Franco & Co. innerhalb eines Tages von halbstarken "Spaßaktionen" über einen missglückten Sprengstoffanschlag bis hin zum titelgebenden sinnlosen Verbrechen in Gestalt einer grandios inszenierten Messerattacke auf ein studentisches Pärchen gegenseitig hochschaukeln. Als auf ersten Blick irritierend humoristischen Kontrast stellt Lizzani seinen Sanbabillini die unbedarfte Sexbombe Lalla (Brigitte Skay) zur Seite, die sich zwar bereitwillig zum Objekt ihrer frauenfeindlichen Gewaltallüren machen, von ihrer faschistoiden Weltsicht aber nicht wirklich beeindrucken lässt – und schließlich das Schicksal der faschistischen Vier besiegelt. 

Dass sich "San Babila, 20 Uhr" bewusst einer eindeutigen Genrezuschreibung verweigert, ist auch am wunderbaren Score von Ennio Morricone zu erkennen, der von stilisierter Marschmusik über Bar-Jazz bis hin zu verspielten Buffo-Klängen reicht. Weitere analytische Einblicke in die Entstehung und historischen Hintergründe dieses außergewöhnlichen Films bieten die exklusiv produzierten Bonus-Features, die Teil 14 der "Italian Genre Cinema Collection" zu einer zusätzlich lohnenswerten Anschaffung machen. In einem 65-minütigen erinnert sich Lizzanis damaliger Regieassistent Gilberto Squizzato mit begeisternder Eloquenz an die vom italienischen Neorealismus geprägte Arbeitsweise seines filmischen Mentors, der nur an Originalschauplätzen drehen ließ und zur weiteren Steigerung der Authentizität überwiegend Laiendarsteller besetzte. Squizzato, der auch in der Rolle des finalen Opfers zu sehen ist, arbeitet außerdem ein Typologie der vier unterschiedlichen Jungnazis heraus, die in dieser stimmigen Erkenntnis gipfelt: "Der Film dekonstruiert den faschistischen Mythos, indem er seine Armseligkeit aufzeigt." Wie subtil der 2013 durch Selbstmord aus dem Leben geschiedene Meisterregisseur Lizzani ("Mussolini - Die letzten Tage") diese Botschaft und diverse psychologische Deutungsmuster des Faschismus in seine Filmbilder eingewoben hat, beleuchten die Filmwissenschaftler Marcus Stiglegger und Kai Naumann in ihrem akademischen Audiokommentar, in dem sie auch ausgiebig auf die realen Schreckenstaten des rechtsextremistischen Terror im Italien der 60er und 70er Jahre eingehen. So spannend kann Filmanalyse sein! Wie es im Genre-Programm von Camera Obscura weitergeht, erfährt man auf der Facebook-Seite des Labels. 

 

"San Babila, 20 Uhr: Ein sinnloses Verbrechen" (Originaltitel: San Babila ore 20: Un delito inutile) – Italien, 1976 (101 Min.)